Klöster in Baden-Württemberg
Chorherren, weltliche   Zelle   Klöster im Landkreis Konstanz   
Kollegiatstift Unserer Lieben Frau Radolfzell - Geschichte
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Abbildung  Button Ansicht vom See, auf dem Hausherrenbild, Ausschnitt. Ölbild 18. Jh.
Der aus Alemannien stammende Veroneser Bischof Ratold errichtete um das Jahr 826 eine dem hl. Peter geweihte Zelle an der Stelle der heutigen Stadt Radolfzell. Dort verbrachte er mit einigen Getreuen seine letzten Lebensjahre und dort wurde er auch, vermutlich 846, begraben. Erst für das Jahr 1100 geht aus der Marktgründungsurkunde für Radolfzell das Bestehen eines Chorherrenstifts hervor. Auch wenn die Chorherren sich ausdrücklich auf Ratold berufen, bleibt eine organisatorische Kontinuität beider Einrichtungen eher zweifelhaft.
Eine Erneuerung des Stifts könnte mit der Übertragung von Zenoreliquien nach Radolfzell in Verbindung stehen. Dafür kommt die Amtszeit Abt Eggehards II. von Reichenau (1071-1088) in Frage. Wie Ratolds Zelle unterstand auch das spätere Radolfzeller Stift dem Benediktinerkloster Reichenau, dessen jeweiliger Abt als Propst fungierte. Die Reichenauer Äbte erließen Stiftsstatuten für Radolfzell, sowohl das Wahlrecht des Kapitels, wie auch das Statuierungsrecht der Chorherren kamen nicht zur Anwendung.
Den höchsten Rang nach dem Propst nahm der Pfarrherr ein, teilweise in Personalunion wurde das nächstwichtige Amt des Kustoden ausgeübt. Daneben fand noch das Amt eines Prokurators, der die Pfründerträge verwaltete, Erwähnung. Insgesamt gab es Pfründen für sieben Chorherren inklusive Pfarrherrn, doch reichte die finanzielle Ausstattung seit der Mitte des 16. Jh. dafür nicht mehr aus. Verantwortlich machte man hierfür den Bauernkrieg und, im Zuge der Reformation, eine veränderte Haltung der Bevölkerung zum Klerus. Als Konsequenz wurde die Anzahl der Klerikerstellen 1594 auf vier gesenkt.
Wesentliche Aufgabe der Chorherren war die feierliche Gestaltung des Chordienstes, für die Seelsorge war dagegen, sieht man von der Beichte ab, ausschließlich der Pfarrer zuständig. Unterstützt wurde er dabei von einem Leutpriester, der sich um die Stiftsuntertanen zu kümmern hatte.
Die Vogtei über das Stift lag beim Kloster Reichenau, das für Radolfzell über einen eigenen Untervogt verfügte. 1298 wurden die Vogteirechte über Stadt und Stift Radolfzell an Habsburg veräußert. Häufig wurden als Vögte Adlige aus der Region eingesetzt, z. B. aus der Familie der Friedinger.
Nach einer unklaren Konstanzer Bischofswahl 1474, aus der zwei gewählte Bischöfe hervorgingen, wurde das Stift in den sich anschließenden Konflikt hineingezogen. Die Mehrheit der Domherren stand hinter Otto von Sonnenberg, der auch von Kaiser Friedrich III. bestätigt wurde. Der Gegenkandidat Ludwig von Freiberg wurde jedoch von Papst Sixtus IV. anerkannt, so dass die Parteien den jeweils anderen Kandidaten mit Acht bzw. Bann belegten. Ludwig von Freiberg geriet in Konstanz unter starken Druck und zog sich nach Radolfzell zurück. Er wurde in der Stadt aufgenommen, da Herzog Siegmund von Österreich seinen Einfluss geltend machte und die Radolfzeller anwies, Ludwig von Freiberg aufzunehmen. Auch ein Teil des Konstanzer Domkapitels folgte ihm nach Radolfzell. Hier lebte Ludwig von ihm übertragenen Zinsen und Gülten des Chorherrenstifts. Belastend für das Stift war auch ein Interdikt, das Otto als Bischof von Konstanz über alle Unterstützer seines Gegners Ludwig verhängt hatte und das jeglichen Kontakt zwischen Radolfzell und dem Umland unterbinden sollte. Obwohl ein Ausgleich beider Seiten bereits Ende 1476 zustande gekommen war, residierte Ludwig bis zu seinem Tod 1480 in Radolfzell.
Das Stift sowie die einzelnen Pfründen verfügten über zahlreichen landwirtschaftlichen Grundbesitz, der sich geographisch in relativer Nähe zu Radolfzell befand. Zumeist lagen Besitz bzw. Einkünfte im Hegau oder am Gnadensee. Dazu kamen wirtschaftlich nutzbare Rechte, wie beispielsweise Fischereirechte im Bodensee, die 1525 erneuert wurden, anscheinend aber schon länger dem Stift gehörten. Über die Pfarrei war das Stift darüber hinaus am Zehnten beteiligt.
Aufgrund der Niederlage gegen Napoleon 1805 und des daraus folgenden Friedens von Preßburg wurde Österreich gezwungen, u. a. Radolfzell an Württemberg abzutreten. Nach deren Übergabe Anfang 1806 setzte die neue Regierung eine Anpassung an württembergische Gesetze durch, was schließlich auch die Auflösung des Stifts 1809 zur Folge hatte. Die Pfarrei blieb jedoch erhalten. 1810 kam die Stadt an Baden.
Was die kulturell-religiöse Bedeutung des Stiftes anbelangt, so waren die Stiftspatrone, hll. Peter (seit ca. 826), Senesius und Theopontus (seit 830) sowie Ratold (nach 846), von der Zelle übernommen worden. Der hl. Zeno ersetzte im 11. Jh. den hl. Peter und in der Neuzeit trat Maria hinzu.
Bedeutendstes kirchliches Fest ist bis auf den heutigen Tag das Hausherrenfest für die drei hll. "Hausherren" Zeno, Theopontus und Senesius. Seit 1725 wird ihrer im Juli, seit 1806 am dritten Julisonntag, mit einer Prozession gedacht.
Von besonderer Bedeutung waren die Bruderschaften, die durch Stiftungen zum Stiftsleben beitrugen. An erster Stelle zu nennen ist die Bruderschaft der Rebleute, die 1511/14 neben einem Altar auch eine eigene Pfründe stiftete. Die Bruderschaft der Schuhmacher und Gerber stiftete bereits 1478 eine Pfründe, die Erzbruderschaft zum hl. Rosenkranz (seit 1629/30), der der Pfarrherr vorstand, tat sich 1648 durch die Stiftung eines Marien-/Rosenkranzaltars hervor.
Eine Stiftsschule kann für das 13. Jh. nachgewiesen werden, spätestens im 14. Jh. war allerdings aus der Stifts- eine Stadtschule geworden.
Einige der Chorherren waren Magister; Absolventen der höheren Fakultäten wie Theologen, Mediziner oder Juristen fehlten dagegen mit Ausnahme des Konstanzer Weihbischofs Melchior Fattlin, zuvor Professor in Freiburg, der 1545 als Pfarrherr erwähnt wird.
In der Reformationszeit kam dem Stift allgemein eine Rolle als Zufluchtsort für katholische Glaubensflüchtlinge zu. Von 1527 bis 1542 befand sich das bischöfliche Gericht aus Konstanz in Radolfzell, auch die Konstanzer Chorherren aus St. Stephan fanden hier vorübergehend Unterschlupf. Der Abt von St. Georg zu Stein, David von Winkelsheim, kam in Radolfzell unter, und der Zisterzienser Michael Stopper, der vom Bebenhäuser Pfleghof in Stuttgart vertrieben wurde, bekam die Radolfzeller Kaplaneipfründe der Familie Vogt übertragen. Durch diesen Zuzug von Geistlichen gewann das religiöse Leben in Radolfzell eine neue, von gegenreformatorischen Ideen getragene Dynamik.
Von einer ersten, von Ratold um 826 errichteten Kirche, wohl aus Holz, hat sich wie auch von einem steinernen Ersatzbau nichts erhalten. Lediglich geringe Baureste sind von einer romanischen Basilika vorhanden, von der es 1471 heißt, sie sei baufällig gewesen und eingestürzt. Der Grundstein des heutigen gotischen Münsters wurde 1436 gelegt, die Arbeiten zogen sich bis um 1520 hin.
Finanziert wurde der Neubau zum großen Teil durch Ablassgewährungen bzw. aus Spenden, auch von Bruderschaften wie der der Rebleute. Der Turm musste schon im 16. Jh. erneuert werden, 1686 wurde er barock verändert.
Nähere Angaben zu Gebäuden, die Ratold errichtete, fehlen. Die Häuser der Chorherren befanden sich später zumeist in der Kirchgasse in unmittelbarer Nähe zur Kirche. Das Pfarrhaus aus dem 18. Jh. liegt am Marktplatz.
Erhalten haben sich bis heute wichtige Reliquiare, vor allem der Hausherrenschrein aus dem frühen 15. Jh., der einen Großteil der Gebeine der hll. Theopontus und Senesius birgt. Das Grabmal Ratolds wurde 1538 aufwändig erneuert. Aus dem 17. Jh. stammt das Kopfreliquiar des hl. Zeno und zwei barocke Altäre, ein neuer Hauptaltar sowie der Marien-/Rosenkranzaltar. Aus dem 18. Jh. datiert der Rokoko-Hausherrenaltar in der Hausherrenkapelle ebenso wie Kanzel und Stuckdecke. Schließlich wurde der Kirchturm im 19. Jh. nochmals stark verändert.
HENDRIK WEINGARTEN     
LITERATUR
-<KB Konstanz> IV, 72-91.
- <KDB I> 312-321.
- P. P. ALBERT: Geschichte der Stadt Radolfzell am Bodensee, Radolfzell 1896.
- O. FEGER: Auf dem Weg vom Markt zur Stadt. Untersuchungen zu den ältesten Marktrechten des Bodenseeraumes. In: <ZGO> 106 (1958) 1-33.
- H.-M. SCHWARZMAIER: Die Familie Vogt in Radolfzell und ihre geistlichen Stiftungen. In: Hegau 21/22 (1966) 69-80.
- F. GÖTZ: Geschichte der Stadt Radolfzell. Schrift- und Bilddokumente, Urteile, Daten (Hegau-Bibliothek 12). Radolfzell (1967).
- R. DENNIG / A. ZETTLER: Der Evangelist Markus in Venedig und auf der Reichenau. In: <ZGO> 144 (1996) 19-46.
- E. HLAWITSCHKA: Ratold, Bischof von Verona und Begründer von Radolfzell. In: Hegau 54/55 (1997/98) 5-44.
QUELLEN
-Generallandesarchiv Karlsruhe 219: Radolfzell, Stadt
-Generallandesarchiv Karlsruhe 229: Spezialakten der kleineren Ämter und Orte
-Generallandesarchiv Karlsruhe 79 P 18: Oberösterreichische/Vorderösterreichische Regierung und Kammer: Nellenburg
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