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Kollegiatstift St. Cyriakus Wiesensteig - Geschichte
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Abbildung  Button Die Stiftskirche St. Cyriakus in Wiesensteig (B). Kupferstich, 2. Hälfte 17. Jh.
Das früheste Zeugnis für die Existenz einer geistlichen Gemeinschaft im oberen Filstal ist der so genannte "Wiesensteiger Stiftungsbrief" vom 6. Dezember 861. Diese Urkunde fasst den gesamten Güterbestand einer Kommunität zusammen, die auf Wunsch König Ludwigs des Deutschen von dem Adeligen Rudolf und dessen Sohn Erich in Wiesensteig angesiedelt wurde.
Zum Gründungsgut gehörten einige Orte (sogar die Kirche in Weinheim an der Bergstraße), in denen auch das Reichskloster Lorsch Besitz hatte; möglicherweise hängt also die Wahl des Cyriacus-Patroziniums mit der im Jahre 847 erfolgten Übertragung der Gebeine dieses Heiligen vom Kloster Lorsch in das Stift St. Cyriacus in Worms-Neuhausen zusammen.
Im 10. Jh. erscheint das Kloster - vermutlich durch königliche Schenkung - in der Hand des Bischofs Ulrich von Augsburg. Die engen Beziehungen zu Augsburg blieben trotz der Zugehörigkeit Wiesensteigs zur Konstanzer Diözese auch später erhalten. Nach den Kämpfen des Investiturstreits wurde das zerstörte Kloster wieder aufgebaut, neu dotiert und zu Beginn des 12. Jh. in ein weltliches Chorherrenstift umgewandelt.
In der Folgezeit kam es zwischen den Bischöfen von Augsburg und Konstanz zu Auseinandersetzungen um das Stift. Denn im Jahre 1300 erkannten Thesaurar und Stiftskapitel die Jurisdiktion des Konstanzer Bischofs an, und 1376 einigten sich die beiden Bischöfe darauf, dass der Augsburger den Propst von Wiesensteig ernennen, der Konstanzer aber alle anderen Rechte besitzen solle. Gleichzeitig wurde die Exemtion des Stifts vom Geislinger Landkapitel festgeschrieben.
Der erste bekannte Propst ist 1130 bezeugt. Als Domherren von Augsburg waren die Pröpste lediglich verpflichtet, das zweimal im Jahr stattfindende Generalkapitel zu leiten. Durch eine Bulle Papst Alexanders VI. wurde 1494 die Dignität eines Dekans (mit doppelter Pfründe) geschaffen; ihm oblag die eigentliche Leitung des Stifts. Bis dahin hatte der (in den Statuten nicht erwähnte) "Summus Scholasticus" diese Aufgabe wahrgenommen.
1426 ist die Vogtei der Grafen von Helfenstein sicher bezeugt. Das Stift konnte eine weitgehend selbständige Stellung behaupten, obwohl immer wieder meist wirtschaftlich motivierte Streitigkeiten mit den Grafen entstanden. Durch die genannte Bulle von 1494 erlangten die Grafen sogar das Patronat über alle Kanonikate und sonstigen Pfründen des Stifts. Trotzdem verzichtete Graf Ulrich XVI. 1532 aus bislang nicht einwandfrei geklärten Gründen auf alle seine Rechte, insbesondere auf das Patronatsrecht.
Die durch Ulrichs Söhne eingeleitete Reformation in der Herrschaft Wiesensteig in den Jahren 1555-1567 scheiterte letztlich am zähen Widerstand der Chorherren. Dieser Tatsache und der im Jahre 1567 erfolgten spektakulären Rückkehr des Grafen Ulrich XVII. zur alten Kirche ist es zuzuschreiben, dass die Reichsgrafschaft Wiesensteig katholisch geblieben ist.
Nach dem Tod des letzten Grafen von Helfenstein (1627) kam die Herrschaft durch Kauf zu zwei Drittel an Kurbayern sowie durch Erbgang zu einem Drittel an Fürstenberg und wurde als Kondominium verwaltet; seit dem Ankauf des fürstenbergischen Drittels im Jahre 1752/53 war der Kurfürst von Bayern alleiniger Patronatsherr des Stifts.
Die Mehrzahl der Stiftsherren scheint im 13. Jh. noch dem niederen Adel angehört zu haben, während seit dem 14. Jh. die Kanoniker überwiegend dem städtischen Besitzbürgertum entstammten. Die schon 1516 nachweisbaren und 1525, 1567, 1581 und 1790 erneuerten Statuten und Gewohnheitsrechte verschärften je länger desto mehr die Zugangsvoraussetzungen.
Die ursprüngliche Zahl von 19 Chorherren (Kanoniker und Chorvikare) verringerte sich im Laufe der Jahrhunderte beträchtlich: 1386 zählte man sieben, 1434 elf Kanoniker und zwei Kapläne, 1482 sieben Stiftsherren. 1516 waren dreizehn Kanonikate besetzt.
Seit 1581 bestand das Kapitel außer dem Propst und dem Dekan aus sieben bis neun Kanonikern, die in stiftseigenen Häusern wohnten, täglich den feierlichen Gottesdienst versahen und häufig von Wiesensteig aus (excurrendo) in Ditzenbach, Hohenstadt, Mühlhausen und Westerheim in der Seelsorge tätig waren.
Die Pfarrkirchen dieser Dörfer waren dem Stift inkorporiert; in den ulmischen Orten Merklingen und Öllingen besaß das Stift das alleinige, in Bernstadt das mit Ulm abwechselnde Pfarrbesetzungsrecht, bis zum 17. Jh. auch in dem württembergischen Albershausen. Inkorporiert war seit 1494 auch die Wallfahrtskirche Maria Dotzburg bei Mühlhausen, die 1804 geschlossen und 1811 abgerissen wurde.
Eine besondere Bedeutung besaß das Stift seit jeher für das Schulwesen in der Herrschaft Wiesensteig, das seit 1774 schrittweise reformiert wurde. Die Schulordnung des Kanonikus Göttler fand Eingang in die "Kurpfalzbayerische Schulbesuchs-Verordnung" von 1802. Göttler wurde 1814 von König Friedrich I. von Württemberg für seine Verdienste mit dem Zivil-Verdienstorden ausgezeichnet, der mit dem persönlichen Adel verbunden war.
Die (lateinische) Stiftsschule ist seit 1372 bezeugt. Sie stand unter der Oberaufsicht eines oder zweier Kanoniker. Insbesondere die Pflege der Kirchenmusik besaß an der Schule einen hohen Stellenwert. In der Regel erlangten auch nur solche Bewerber ein Kanonikat oder ein Chorvikariat, die gute Sänger und/oder Instrumentalisten waren. In der Barockzeit war das Amt des lateinischen Schullehrers stets mit der Stelle des Chorregenten oder Kantors verbunden.
Überregionale Bedeutung hatte das Stift als geistliches Zentrum. 1619 wurde die bereits bestehende Priesterbruderschaft in die "Erzbruderschaft vom hl. Rosenkranz" umgewandelt und bei der Stiftskirche angesiedelt. 1741 wurde an der Wallfahrtskirche Maria Dotzburg die Bruderschaft "Maria Zuflucht der Sünder" gegründet, die 1804 zugleich mit der Wallfahrt aufgehoben wurde.
In der Stadt Wiesensteig gehörten 1803 zum Eigentum des Stifts außer land- und forstwirtschaftlich genutzten Wiesen, Wäldern und Gärten mehrere an Private vermietete Gebäude, vor allem aber die Stiftskirche, das Propsteigebäude ("Dechanei") sowie weitere acht Kanonikergebäude, ferner das Haus des weltlichen Stiftspflegers, das Frühmesserhaus, zwei Vikariatshäuser, die stiftische Zehntscheuer und der Stiftsfruchtkasten. Das Stift war wertmäßig der größte Immobilienbesitzer in der kurpfalzbayerischen Herrschaft und Stadt Wiesensteig.
Zur Grundherrschaft des Stifts gehörten um 1500 Güter und Rechte in 36, um 1750 in 52 Ortschaften. 1567 wird sein Gesamteinkommen mit 6.000-7.000 Gulden angegeben. Um 1700 hatte das Stift wieder einen nennenswerten Wohlstand erreicht; seine Einkünfte erlaubten ihm sogar, beträchtliche Kapitalien auszuleihen. Bei der Aufhebung des Stifts betrug das Jahreseinkommen über 18.000 Gulden. Zusammen mit den von der Landschaftskasse ausgeliehenen Kapitalien der Rosenkranzbruderschaft und der beiden Wallfahrts-Stiftungsfonds betrugen die Aktiva des Stifts im Jahre 1803 rund 90.000 Gulden.
Bei seiner Aufhebung am 18. August 1803 gehörten dem Stift außer dem Propst und dem Dekan acht Kanoniker, drei Chorvikare und zwei Wallfahrtsbenefiziaten sowie der weltliche Stiftspfleger an; assoziiert waren ein Frühmesspriester und der "Hofkaplan". Die Genannten erhielten eine staatliche Pension. Drei Kanoniker verblieben als aktive Weltgeistliche in Wiesensteig, während der Dekan und fünf Kanoniker in den Diözesen Regensburg und Augsburg als Ruhestandsgeistliche oder Pfarrer wirkten. Der letzte ehemalige Kanoniker von Wiesensteig starb 1847 in Augsburg.
Die auf einem romanischen Vorgängerbau 1466 errichtete Stiftskirche mit 12 Altären (darunter vier kostbare Flügelaltäre) sowie zwölf Kanonikergebäude fielen dem Stadtbrand von 1648 zum Opfer. Bereits 1652 wurde ein neuer Dachstuhl aufgesetzt und die beiden Türme erhielten ihre charakteristischen "welschen Hauben". In den folgenden Jahrzehnten entstanden die sechs Altäre. Die Pläne zu der 1685 erbauten Sakristei lieferte der bedeutende Vorarlberger Barockbaumeister Michael Thumb.
1719 wurde der Ellwanger Bildhauer und Stukkateur Melchior Paulus mit der Barockisierung des Chores beauftragt. Von ihm stammen auch die überlebensgroßen Statuen der vier Evangelisten und der vier Kirchenlehrer sowie das Fresko der Immaculata. Der Innenraum erhielt zwischen 1775 und 1780 eine klassizistische Ausstattung. Daran beteiligt waren so bedeutende Künstler wie der aus Wiesensteig gebürtige Münchener Hofbildhauer Johann Baptist Straub, sein Altgeselle Joseph Streiter aus Schwaz in Tirol, der Münchener Maler Christian Wink und der Freskomaler Joseph Anton Huber aus Weißenhorn. In den Jahren nach 1995 wurden Dach, Türme und Außenwände der Stifts- und Pfarrkirche Wiesensteig ebenso wie der barocke Ölberg an der Südseite gründlich restauriert.
KARLFRIEDRICH GRUBER     
LITERATUR
-<ERZBERGER> 312ff.
- <Württ. Klosterbuch> 512-514 (K. GRUBER).
- <GermBen> V, 670-673 (H. SCHWARZMAIER).
- <StAL> 535 S.
- <KDW Ehingen> 191-201.
- W. ZIEGLER: Wiesensteig. Stadt und Schloss. Wiesensteig 1986.
QUELLEN
-Hauptstaatsarchiv Stuttgart H 14 Bd. 301: Diplomatare
-Hauptstaatsarchiv Stuttgart H 235: Lagerbücher der Klöster und Stifte: Waldkirch-Würzburg
-Staatsarchiv Ludwigsburg B 185: Schwäbisch Gmünd, Reichsstadt: Dominikanerinnenkloster Gotteszell
-Staatsarchiv Ludwigsburg B 535 L: Wiesensteig, Geistliche Niederlassungen
-Staatsarchiv Ludwigsburg B 535 S: Wiesensteig, Geistliche Niederlassungen
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